Geschichte der Kinderlieder
Kinderlied in den 1970–90er-Jahren
In der Zeit von 1968 bis 1984 etwa liefen mehrere Richtungen zum Thema Musik für Kinder nebeneinander her:
* Am Anfang dieser Zeit wurde in den Schulen noch gesungen; Schulen, Kirchen und Rundfunkanstalten hatten ihre Kinderchöre. Texter und Komponisten waren mit ihrer Musik für Kinder längst neue Wege gegangen; es entstanden viele neue Lieder für Kinder. Die neuen Kompositionen wurden oft im Rundfunk produziert und über Schul- und Kinderfunk verbreitet.
Den Begriff Kinderliedermacher kannte man noch nicht.
* 1968 erschien die Erprobungsfassung des „Curriculums Musikalischer Früherziehung“ beim Verband Deutscher Musikschulen und wurde ab 1970 in großer Verbreitung an vielen Musikschulen eingeführt. 1974 etablierte sich die überarbeitete Fassung mit dem Titel „Musikalische Früherziehung“. Eine gleichnamige Kindergartenfassung hatte keinen dauerhaften Erfolg. Pentatonische Melodien standen im Mittelpunkt dieses Programms – Kinderlieder, die sich diesem Tonraum widersetzten, wurden ausgelassen.
* 1972 versuchten die Kultusminister der BRD, das Fach Musik lehr- und lernbar durchzusetzen – die Musikalität sollte ausgeklammert werden. Ein liedfreier Musikunterricht wurde gefordert. Federführend war hier der Verlag Klett mit seinem Werk SEQUENZEN.
* Viele Verlage nutzten die damalige Linksbewegung in Westdeutschland (68er-Bewegung) für entsprechende Publikationen. Der Pläne-Verlag zum Beispiel stellte 1973 das Sängerpaar Christiane und Fredrik mit realitätsbezogenen Kinderliedern vor, der Rowohlt-Verlag steuerte mit seiner Reihe rororotfuchs neue Lieder, Lyrik und Prosa für Kinder und Jugendliche bei.
* Nebenbei gab es viele Versuche mit Klangexperimenten im Kindergarten Margrit Küntzel-Hansen, Mauricio Kagel mit einem Projekt beim WDR und vielen anderen.
Die Wende
Als sich zu Beginn der 1990er-Jahre eine Veränderung in der politischen Landschaft in Westdeutschland abzeichnete, trennten sich viele Verlage sehr schnell von ihren engagierten Autoren und stellten ihr linkes Programm ein; gleichzeitig wurden aber auch andere unpolitische Kindermusikreihen, wie zum Beispiel Der Kinderchor, Hrg. Günther Kretzschmar bei Hänssler, an andere Verlage verkauft – und verschwanden.
Jetzt tauchten die neuen Kinderliedermacher vermehrt auf.
Die Rundfunkanstalten bauten nach und nach ihre Kinderprogramme um; der Schulfunk verschwand, der Kinderfunk wurde auf ein Minimum reduziert; damit verschwanden allmählich auch die großen Kinderhörspiele. Kinderchöre wurden nicht mehr gebraucht.
Kinderlied heute
Auch heute noch schreiben einige Autoren in der alten Tradition des Liedermachens Lieder für singende Kinder. Die großen Schulbuchverlage setzen in ihren Ausgaben wieder vermehrt auf die Verbindung von traditionellen und neuen Kinderliedern. Dazu kommen immer mehr Kinderlieder aus aller Welt. In der Schweiz sind Kinder-Openairs ein regelrechter Boom.
Auf Veranstaltungen in Kindergärten, Grundschulen oder Vereinen spielen Kinderlieder nur noch selten eine tragende Rolle. Die im 20. Jahrhundert noch üblichen Auftritte von Liedermachern sind für viele dieser Institutionen nicht mehr finanzierbar und durch das Abspielen von CDs ersetzt worden. Musik wird nicht mehr aktiv gemacht, sondern überwiegend passiv konsumiert. Kinderlieder werden damit zu einem Produkt, das industriell hergestellt und vertrieben wird – wie die meiste Musik für Erwachsene auch. Das Kind als Konsument wird immer früher angesprochen und „erwachsen gemacht“. Renommierte Kinderliedermacher beobachten seit zehn Jahren einen eigentlichen „Verlust an Kindheit“. Das heißt einstige: Kinderlieder für Vier- bis Zehnjährige sprechen heute nur noch Drei- bis Fünfjährige an.
In den Kindersendungen der Rundfunkanstalten sind die Sendeanteile singender Kinder oder Liedermacher auf ein Minimum reduziert, da durch den überwiegend passiven Musikkonsum die Anforderungen der Hörerinnen und Hörer an die präsentierte Musik begrenzter geworden sind: Was nicht in den industriellen Mainstream passt, wird abgeschaltet und mindert damit die Einschaltquote. Auch bei den Lokalradios werden Kindersparten als erste weggespart.
Es gibt aber immer noch Lehrer und Chorleiter, die mit ihren Kindern traditionelle, aber auch neue musikalische Wege gehen. Auch gibt es Eltern, die wieder mit ihren Kindern vermehrt singen, sowie Musikschulen, Musikgärten und viele private Initiativen zur Förderung der Musikalität bei Kindern neben Gruppierungen und Einzelpersonen, die sich für „gute Musik für Kinder“ einsetzen.
Wichtige Stützen, die das Kinderlied immer noch hochhalten sind Jugendverbände (Pfaid, Cevi -> Rondo, Limmatschnurrä, Pfalibü) und engagierte Elternprojekte, oft mit religiösem Hintergrund (Bsp. Lieber Gott, du hörst mein Lied).
„Singen, Spielen und Tanzen helfen uns in unserer Kindheit, uns selbst und die Welt um uns zu verstehen und kennenzulernen. Beinah von selbst öffnen sich in dieser Phase Türen zum inneren und äußeren Leben, an denen später, in einer anderen Entwicklungsphase, vielleicht lange und mühsam gerüttelt werden muss – wenn sie sich überhaupt noch aufmachen lassen“ (M. Jehn).